Jesus schildert uns im Sonntagsevangelium dramatische Szenen: Sterne, die vom Himmel fallen und eine finstere Sonne – Bilder, die an Weltuntergangsvisionen erinnern. Diese apokalyptischen Vorstellungen sind auch heute präsent, nicht nur in der Bibel, sondern tief verwurzelt in der ...
Jesus schildert uns im Sonntagsevangelium dramatische Szenen: Sterne, die vom Himmel fallen und eine finstere Sonne – Bilder, die an Weltuntergangsvisionen erinnern. Diese apokalyptischen Vorstellungen sind auch heute präsent, nicht nur in der Bibel, sondern tief verwurzelt in der menschlichen Kultur. Umweltkatastrophen, politische Krisen, soziale Spannungen, die Klimakrise – die „Weltuntergangsstimmung“ scheint fast zeitlos. Wir kennen solche Ängste, und jede Generation hat sie auf ihre Weise erlebt und ausgedrückt. Doch Jesus spricht im Evangelium nicht nur von Ängsten, sondern ruft zu einem bewussten Umgang mit der Gegenwart auf.
„Jenen Tag aber kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater,“ sagt Jesus. In diesem Unwissen liegt eine tiefere Weisheit: Weil wir den genauen Lauf der Dinge nicht kennen, bleibt uns letztendlich nur die Möglichkeit und Freiheit, jeden Augenblick bewusst zu leben. Das Evangelium ermutigt uns dazu, nicht in Zukunftsängsten zu verharren, sondern die Gaben des Lebens im Hier und Jetzt zu entdecken und zu pflegen. Die Dringlichkeit liegt im Jetzt – nicht in einer vagen Angst vor dem Morgen.
Die großen Religionen lehren diese Weisheit seit Jahrhunderten: Wende dich dem gegenwärtigen Augenblick zu, sei achtsam und gestalte dein Leben bewusst, in Liebe und im Dienst an anderen. Diese Spiritualität des Augenblicks lehrt uns, das Wesentliche in unserem Leben nicht zu übersehen – im liebevollen und verantwortungsbewussten Umgang mit uns selbst, den anderen und der Schöpfung.
Vielleicht ist diese Bibelstelle auch eine Einladung zur Gelassenheit. Es ist nicht unsere Aufgabe, alles zu wissen oder die Zukunft bis ins letzte Detail zu kontrollieren. Vielmehr fordert uns das Evangelium dazu auf, Vertrauen zu haben – in Gott und in die Zeit, die uns geschenkt wird. Und das Leben im Augenblick bedeutet nicht, blind zu sein für die Welt um uns herum, sondern es geht darum, bewusst hinzusehen.
Wenn wir das Heute bewusst leben, wachsen in uns Vertrauen, Mut und die Fähigkeit, unser Leben sinnvoll zu gestalten. Das ist es, was Jesus von uns möchte: Wache, aufmerksame Menschen, die im Heute die Liebe und Gnade Gottes erkennen und teilen. Diese Wachsamkeit ist nicht von Angst getrieben, sondern von Hoffnung und von dem Wissen, dass jeder Tag ein Geschenk ist.
In diesen apokalyptischen Bildern des Evangeliums liegt also ein Aufruf: Die Zukunft, wie ungewiss sie auch sein mag, gehört Gott. Unsere Aufgabe ist es, die Gegenwart anzunehmen, sie mit Liebe zu füllen und das Leben zu ehren, das uns geschenkt wurde. So wie ein Baum in jeder Jahreszeit seine Wurzeln stärkt, können wir in der Gegenwart verwurzelt bleiben und dem Kommenden mit Hoffnung begegnen.
Ingrid Peyrer, Religionslehrerin