Wenn Kinder ihr Zuhause verlieren
06.12.2024 RegionalesKinder von ihren Eltern zu trennen ist der letzte Ausweg, doch in manchen Fällen unvermeidbar. In Familiengruppen, Pflegefamilien und Wohngemeinschaften finden sie eine sichere Umgebung und Perspektiven für eine Zukunft. Ein Besuch in ...
Kinder von ihren Eltern zu trennen ist der letzte Ausweg, doch in manchen Fällen unvermeidbar. In Familiengruppen, Pflegefamilien und Wohngemeinschaften finden sie eine sichere Umgebung und Perspektiven für eine Zukunft. Ein Besuch in einem Wohnhaus in Bad Mitterndorf.
An der Hauswand lehnen zwei schwarze Bobs mit gelben Lenkrädern, daneben eine rote Kinderschneeschaufel. Im Garten steht eine Netzschaukel und ein Fußballtor. Der blaue Tischtennistisch ist zusammengeklappt und am Geländer festgezurrt. Auf den ersten Blick wirkt das große weiße Haus in Bad Mitterndorf wie ein Mehrparteienhaus, in dem mehrere Familien mit Kindern wohnen. Erst ein Schild über der selbst gebastelten Weihnachtsdeko verrät, dass es sich um eine Einrichtung von Pro Juventute handelt. Dort finden Kinder ein Zuhause, die keines mehr haben.
Geburtstagskalender und Kinderliteratur
Das große Schuhregal im Vorhaus verrät, dass hier mehrere Menschen unter einem Dach leben. Über eine Glasscheibe blickt man in ein großes Büro – der einzig wahrnehmbare Unterschied zu einem gewöhnlichen Haushalt. Direkt angrenzend befindet sich die Küche, wo Helga Binder-Grünwald bereits das Mittagessen zubereitet. „Heute gibt‘s einen ‚Armen Ritter‘. Die Süßspeise ist aber eine Ausnahme“, lächelt die stellvertretende Teamleiterin. Das Esszimmer ist lichtdurchflutet und geräumig. In der Mitte steht ein massiver Holztisch, an dem mindestens zehn Personen Platz nehmen können. An der Wand hängt ein Kalender, der mehrere Geburtstage mit Porträtfotos markiert. Ein Bücherregal, gefüllt mit Kinderliteratur, ziert eine Wand. Den größten Teil davon nehmen Bände der „Knickerbockerbande“ von Thomas Brezina ein.
Ähnlich einer Großfamilie
Im Bezirk Liezen sind derzeit insgesamt 123 Kinder und Jugendliche in sozialpädagogischen Einrichtungen oder bei Pflegepersonen untergebracht. Die Tendenz ist stark steigend, denn im Vorjahr waren es noch 86. Pro Juventute betreibt im Bezirk neben Bad Mitterndorf in Johnsbach und Landl zwei weitere Häuser und in Rottenmann eine Jugendwohngruppe. Insgesamt sind es 37 Kinder zwischen fünf und 21 Jahren.
„Unser Ziel ist es, die Kinder bis zur Volljährigkeit zu begleiten, damit sie später ein selbstständiges Leben führen können“, sagt Regionalleiterin Judith Lackner. Der Alltag in der Familiengruppe gleicht einer Großfamilie. Nach dem Frühstück geht‘s in die Schule oder in den Kindergarten, zu Mittag wird gegessen und am Nachmittag gibt es Freizeitangebote oder es stehen individuelle Therapien am Plan. Geburtstage und Weihnachten werden gemeinsam gefeiert und der Nikolaus kommt auch vorbei. Im Wohnhaus in Bad Mitterndorf ist für die Kinder und Jugendlichen eine Werkstatt und ein Bewegungsraum eingerichtet, und sie helfen auch fleißig im Haushalt oder bei der Gartenarbeit mit. Die Finanzierung läuft über die BH und für jedes Kind gibt es definierte Tagessätze. „Damit könnten wir den Standard, den wir unseren Kindern derzeit bieten, aber nicht halten“, sagt Judith Lackner. Deswegen sind die Häuser auf Spendengelder angewiesen. Damit lassen sich beispielsweise Skitage oder Reitstunden finanzieren.
Letzte Konsequenz
Die Einrichtung in Bad Mitterndorf bietet derzeit ein Zuhause für neun Kinder zwischen sechs und 17 Jahren. Kinder, die bei ihren Eltern nicht mehr leben können. „Fremdunterbringung ist die letzte Konsequenz, wenn gar nichts anderes mehr hilft“, sagt Judith Lackner. Ergehen Verdachtsmeldungen über vernachlässigte Kinder von Kindergarten, Schule oder Nachbarn beim Jugendamt ein, ist die Behörde verpflichtet Nachschau zu halten und die Situation zu beurteilen. Führen Unterstützungen durch regelmäßige Besuche und Therapien zu keiner Verbesserung, müssen die Kinder von der Familie getrennt werden. Wenn das Kindeswohl unmittelbar gefährdet ist, kann es auch sehr schnell gehen. Lackner erzählt von einem Fall, bei dem ein dreijähriges Kind die Wohnungstür öffnete, während die Mutter aufgrund von übermäßigem Drogenkonsum bewusstlos im Badezimmer lag. Binnen weniger Stunden musste für dieses Kind ein Platz vorbereitet werden. Rückführungen zu den ursprünglichen Familien kommen äußerst selten vor.
Gewalt, Missbrauch, Drogen
Die Gründe dafür sind unterschiedlich, stehen aber oft im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch, massivem Drogenkonsum oder psychischen Erkrankungen der Eltern.
Sind die Erziehungsberechtigten nicht mehr imstande für ihre Kinder zu sorgen, erteilen sie in manchen Fällen freiwillig ihre Zustimmung für eine Fremdbetreuung. Passiert das nicht, müssen die Kinder per gerichtlicher Anordnung anderswo sicher untergebracht werden. Sie kommen in Familienwohngruppen, wo sie „so familiennah wie möglich aufwachsen können“, sagt Judith Lackner.
Emotionalen Rucksack auspacken
In den Wohnhäusern ist rund um die Uhr zumindest eine betreuende Person vor Ort. Sozialarbeiterinnen, Traumapädagogen, Therapeuten und Deeskalationstrainer helfen den Kindern, mit ihrem Schicksal zurechtzukommen. Selten eine leichte Aufgabe. Zum Teil sind die Kinder so klein, dass man ihnen nicht erklären kann, warum sie von ihren Eltern weg müssen. „80 Prozent der Kinder leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen aufgrund ihrer Biographie. Sie bringen einen prall gefüllten Rucksack an Emotionen mit. Und den packen wir Schritt für Schritt aus, um die Vergangenheit zu bewältigen. Dasbraucht Zeit und kann Jahre dauern.“, sagt Lackner.
Bergauf und bergab
Die Entwicklung der Kinder gleiche einer Hügelwanderung, beschreibt es Lackner: „Es geht bergauf und bergab.“ Fortschritte und Rückschläge in der Traumabewältigung seien nichts Ungewöhnliches und es brauche viele Wiederholungen, bis sich Stabilität einstellt. Doch es zahle sich aus, denn es müsse der Teufelskreis durchbrochen werden. Andernfalls werde das in der Kindheit Erlebte später an die eigenen Kinder weitergegeben. Die Sozialarbeiterin weiß auch von positiven Beispielen zu berichten. „Ein Bursche kam mit drei Jahren zu uns in die Wohngruppe. Kürzlich konnte der heute Jugendliche nach Rottenmann zu den Jugendlichen wechseln und absolviert eine Lehre als Dachdecker.“ Es sind die kleinen Erfolge, die zählen und den Weg in eine sichere Zukunft ebnen. Durch die Arbeit der sozialen Einrichtungen bekommen Kinder eine Chance auf ein selbstständiges Leben. Eine Chance, die ihnen ansonsten verwehrt geblieben wäre.