„Volksmusik ist ein Lebensmittel“
11.10.2024 RegionalesHermann Härtel spricht über prägende Erlebnisse seiner Kindheit, den Aufbau des Volksliedwerk-Archivs und über die Musik als Puls seiner Familie.
Wenn Hermann Härtel über Musik spricht, leuchten seine Augen. Seine ...
Hermann Härtel spricht über prägende Erlebnisse seiner Kindheit, den Aufbau des Volksliedwerk-Archivs und über die Musik als Puls seiner Familie.
Wenn Hermann Härtel über Musik spricht, leuchten seine Augen. Seine detailreichen Geschichten sind begleitet von einem verschmitzten Schmunzeln. Für ihn ist Musik nicht bloß ein Hobby – sie ist ein Lebenselixier, ein Anker in stürmischen Zeiten und der Puls seiner Familie. Es ist diese Leidenschaft, die sein Leben geformt hat – von der Flucht seiner Familie während des Zweiten Weltkriegs bis zur Leitung des Volksmusikarchivs des Landes Steiermark.
Flucht und Existenzaufbau
Als 1945 der Krieg in Richtung Graz rückte, flüchtete Hermann Härtel sen. mit seiner schwangeren Frau in die Obersteiermark. 1949 kam Hermann Härtel als drittes von insgesamt fünf Kindern in Irdning zur Welt. Im selben Jahr gründete sein Vater eine Nähmaschinenfirma, richtete sich später eine Werkstatt in Stainach ein. In den Sechziger-Jahren zog die Familie schließlich nach Liezen, wo das Geschäft heute noch von seinem Bruder bzw. seinem Neffen geführt wird.
Vom Mund abgespart
Neben dem Aufbau der Nähmaschinenfirma spielte die Musik eine zentrale Rolle in der Familie. Die Eltern waren Freunde der Klassik und Romantik und besa- ßen eine Schellack-Sammlung. Sonntags lief der Plattenspieler mit Bruckner, Tschaikowski, Mendelssohn und Haydn. „Nach dem schrecklichen Krieg war es unseren Eltern ein Anliegen, uns die Kultur zu vermitteln“, erinnert sich Hermann Härtel. Jedes der fünf Kinder bekam ein Notenheft – Telemann und Mozart für Anfänger – und begann mit der Blockflöte. Der Vater mimte den Lehrer. Sonntagabend hatte jedes der Kinder am Wohnzimmer zu klopfen und der „Lehrer“ prüfte den Lernfortschritt. Später borgte man sich Musikinstrumente aus und die Kinder besuchten die Musikschule. „Unsere Eltern haben sich den Musikunterricht vom Mund abgespart. Wir haben Armut kennengelernt, aber wir haben es nicht gespürt. Wir waren glückliche Kinder und haben alles gehabt“, resümiert Härtel.
Von der Klassik zur Volksmusik
Die Musikschule war zu Beginn ein harter Brocken für den jungen Hermann Härtel. „Ich habe sieben Jahre lustlos Geige gelernt. Meine Lehrerin hätte am liebsten nur beginnende Philharmoniker unterrichtet. Sie hat mehr geschimpft und ist nicht auf die Idee gekommen uns den Spaß zu vermitteln“, wundert sich Härtel heute noch über die damaligen Unterrichtsmethoden. „Dass aus mir etwas geworden ist, verdanke ich der Vehemenz meiner Eltern“, ist sich Härtel sicher. Die Leidenschaft zum Musizieren hat sich erst später entwickelt. Seine Eltern schlossen sich einer Volkstanzgruppe an, welche zu einem Tonbandgerät ihre Tänze probten. Vater Härtel meinte danach: „So ein Blödsinn. Das werden später unsere Buben spielen.“ So organisierte man sich eine Ziehharmonika und ein Hackbrett und die Geschwister erschlossen das Gebiet der Volksmusik. Es folgten die ersten Auftritte. Als die Familienmusik bei einem Almkirtag im Rundfunk zu hören war, ist das auch der Geigenlehrerin zu Ohren gekommen. „Sie hat mich in der nächsten Stunde zusammengeschrien, von wegen man dürfe erst auftreten, wenn man perfekt sei.“ Die Freude am Musizieren konnte die Lehrerin dennoch nicht brechen.
Mit der Musik in die Welt
Beruflich war Hermann Härtel als Nähmaschinentechniker für den elterlichen Betrieb im Bezirk Liezen unterwegs. Später hatte sein Vater die Idee als Ergänzung ein Musikhaus als zweiten Geschäftszweig aufzubauen. „Ich hab mir dafür eigens ein Stück auf der Zither und ein Stück auf der Gitarre beigebracht, um die Instrumente unseren Kunden vorführen zu können“, erzählt Härtel. Seine Urlaubstage verbrachte er mit Musikreisen mit einer Tanz- und Spielgruppe sowie einem Chor. Es ging nach Skandinavien, Russland, Aserbaidschan, Persien und Amerika. Ende der Siebziger-Jahre verspürte Hermann Härtel einen Drang zur Veränderung. Er kündigte zuhause und ging nach Graz. Nach Gelegenheitsjobs landete er beim Land Steiermark im Jugendreferat.
Instrumente zur freien Entnahme
Zu dieser zeit lernte Hermann Härtel seine Frau Inge kennen und gründete eine Familie. „Es hat sich alles wiederholt, nur dass wir mit unseren Kindern in keiner Notzeit waren“, sagt Hermann Härtel. Alle fünf Kinder lernten Musikinstrumente. Wichtig sei, dass Schüler und Lehrer zusammenpassen, nennt er als einen der Erfolgsfaktoren. Man dürfe nicht den Fehler begehen, beim ersten Anzeichen von Ermüdung das Instrument aufgeben zu lassen. Ein weiteres wichtiges Element sei, dass immer mehrere Instrumente griffbereit sind. „Bei uns ist immer eine Gitarre an der Wand gehängt und eine Harmonika im Eck gestanden. Heute kann jedes Kind Gitarre und Ziehharmonika spielen, obwohl niemand dafür Unterricht erhalten hat“, sagt Härtel und schickt schmunzelnd hinterher: „Das musst du auch einmal aushalten. Fünf Kinder, die nebeneinander alles probieren dürfen.“ Anlässlich seines 75. Geburtstages bat er seine Kinder, eine Auswahl seiner Stücke zu vertonen. Die CD „Geburtstagswalzer“ erschien im heurigen Jahr und enthält 29 Kompositionen von Hermann Härtel.
Geburtsstunde des Volksliedwerks
Nachdem der Musikant Anfang der Achtziger-Jahre eine Volksmusikgruppe gegründet hatte, wollte er ins Notenarchiv des Landes Steiermark. Das stellte sich als große Hürde heraus. „Später war mir auch klar, warum. Es handelte sich um ein Dachkammerl, mit vergilbten Blättern und tausenden toten Fliegen am Boden“, so Härtel. Schließlich wurde ihm die Verantwortung des Archivs übertragen. „Ich bekam den Schlüssel ausgehändigt, wohl um darauf zu achten, dass da nicht noch einer hineingeht“, lacht er. Er begann zu sortieren, katalogisieren und kaufte alles an, was mit Volksliedwerk zu tun hatte. Nebenbei ging er Lehraufträgen an verschiedenen Universitäten nach und erhielt den Berufstitel Professor verliehen.
Der Bruch
Bei all seinen Erzählungen hat Hermann Härtel ein Schmunzeln auf den Lippen und erzählt mit Leidenschaft. Bis er zu einer Zäsur in seiner Karriere kommt. „Sechs Jahre vor meiner Pensionierung änderten sich die politischen Verhältnisse und ich wurde von meinem Platz verdrängt. Das war schmerzlich“, so Härtel. Er verlor seinen Posten, in den er so viel Herzblut und Leidenschaft investiert hatte. Nach vielen Jahren hat Hermann Härtel damit seinen Frieden geschlossen. Vor wenigen Wochen besuchte er erstmals wieder das Archiv. Es freut ihn, dass sein Nachfolger dort anknüpfte, wo er aufgehört hatte. Und auch der jetzige Geschäftsführer zollte Härtel Respekt für sein Lebenswerk.
Positive Dissonanzen
Was Volksmusik für Hermann Härtel bedeutet? „Volksmusik ist ein Lebensmittel wie jedes andere. Man muss darauf achten, dass es frisch bleibt und in der nächsten Generation noch geschätzt wird.“ Außerdem ist Härtel überzeugt, dass die Musiker die Welt retten werden, denn „sie sind die einzigen, die Dissonanzen positiv sehen“.